Visionen
Probleme in der Beurteilung von Visionen
Als Vision (lat. videre - sehen, schauen) wird im weitesten Sinne die Wahrhehmung oder das Erleben nichtphysischer Vorgänge bezeichnet. Ein solches Geschehen
stösst im modernen Denken, dessen Ausgangspunkt und Ziel die physische Wirklichkeit ist, notwendig auf Unsicherheit und Ablehnung. Visionen gelten als subjektive
nicht objektivierbare Geschehnisse, die als psychische Phänomene auf krankhafte oder neurologische Zusammenhänge hin gedeutet werden.
Eine Ausnahme bildet vielleicht der tiefenpsychologische Ansatz C. G. Jungs, nach dem sich in Motiven von Visionen das kollektive Unterbewusstein bildlich in
Archetypen ausspricht. Mehr zu diesem Ansatz …
Der gesellschaftliche Wert
Für die Zeit, in der Johannes die Apokalypse geschrieben hat, kann aber ein anderes Verhältnis zwischen Alltagsempfinden und visionärem Erleben ausgemacht
werden. Die Menschen standen Visionen nicht im selben Masse verunsichert gegenüber, ja, es galt sogar als Auszeichnung, wenn jemand visionäre Wahrnehmungen
hatte.
Visionäres Erleben galt als Schau hinter die Kulissen des alltäglichen Lebens. Die physisch wahrnehmbare Welt und die Notwendigkeiten, die sie den Menschen
aufzwang, wurden als Ausfluss geistiger Wesenheiten verstanden. Die Vision erlaubte Sicht auf diese geistigen Zusammenhänge.
Zur Interpretation einer Vision kann demnach ein Erstes festgehalten werden:
Visionen aus einer Zeit, in welcher Visionen einen gesellschaftlichen Wert und eine allgemeine Funktion erfüllten, können nicht einfach mit Visionen psychisch
erkrankter Menschen der Gegenwart gleichgesetzt werden. Der völlig andere historische und kulturelle Kontext ermöglichte andere Aussagen. Eine Vision von den
Ausmassen der Apokalypse kann nicht als Hallunzination oder psychische Verwirrung verstanden werden. Wir dürfen den gesellschatlichen Wert und die allgemeine
Funktion, welche sie zu erfüllen hatte, erwarten.
Die gewählte Blickrichtung
Eng mit dem gesellschaftlichen Wert eines Produktes und seiner allgemeinen Funktion sind das allgemein geltende Interesse und sein Weltbild verbunden.
So verschieden auch die Produkte sein mögen - ein Visionsbericht wie die Apokalypse, die Guillotine zur Zeit der französischen Revolution, eine
Nespresso-Kapsel indischen Flavours - sie wachsen aus allgemeinen Interessen und den damit verknüpften Weltbildern hervor.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie stellt Produkte in ihren jeweiligen historischen und kulturellen Kontext und macht aus ehemaligen Produkten Zeugnisse
ihrer Zeit. In ihren historischen Bezüge soll die Apokalypse auch hier unter dem Menupunkt
"entstehungszeit" betrachtet werden. Aber die Tatsache der historischen Abhänigkeit lässt uns noch einen weiteren Apsekt erahnen: das Intersse
lenkt unseren Blick. Schauen wir auf die eine Seite, verlieren wir die andere aus den Augen, d. h. während heute das allgemeine Interesse der Welt
und ihrer Nutzung zugewandt ist, richtete sich zur Zeit des Johannes das Interesse auf eine Geistwelt und ihrem Zusammenhang mit der Welt -
und das lässt andere Wahrnehmung und Erlebnisse zu.
Analog zum Blickfeld, das sich mit dem Gesicht verschiebt, oder zum Radio dessen Empfangsfrequenz variiert werden kann, ist es nicht auszuschliessen,
dass die Moderne keine Geistwelt wahrnimmt, weil sie auf andere Inhalte gerichtet ist, während ein Mensch der Antike es unsinnig gefunden hätte,
Gedanken als Ergebnis physiologischer Prozesse zu verstehen.
Zur Interpretation einer Vision kann demnach ein Zweites festgehalten werden:
Der Fokus, mit dem die Welt verstanden und betrachtet wird, bestimmt die Vorgehensweisen und Ergebnisse, denen Wirklichkeit anerkannt werden.
Wir können nicht ausschliessen, dass unter anderen Umständen ein anderen Blick auf die Welt möglich ist.
Die Wirklichkeit einer geistigen Welt können wir vielleicht nicht erfahren. Aber diese Erfahrung kann unter anderen Voraussetzungen nicht
grundsätzlich abgelehnt werden. Die Visionen des Johannes beantworten Fragen, die wir heute so nicht stellen. Ob aber
eine geistige Welt in Visionen geschaut werden kann, müssen offen gelassen werden.
Ähnlichkeiten und Differenzen
Werden die Erklärungsmodelle älterer Kulturen mit denen der Gegenwart verglichen, so unterscheiden sie sich kaum in der Absicht und
Ernsthaftigkeit, mit der sie vertreten werden. Wettererscheinungen, in welchen nach früherer Erklärung göttliche Wesenheiten gewaltet haben, werden heute
mit Wettermodellen und klimatischen Zusammenhängen erklärt. Die menschliche Anatomie, welche ehemals in Analogie zu Erscheinungen der Pflanzen- und Tierwelt
gestellt wurde, wird heute nach physikalischen und biochemischen Modellen erklärt. Das Bedürfnis nach ernsthafter Erklärung stand damals wie heute
dahinter.
Und: die Menschen von früher haben nicht von Göttern gesprochen, weil sie einfach keine andere Erklärung für die Vorgänge in der Welt
fanden, sondern, weil sie dieses Erklärungsmodell genau so wirklich empfunden haben, wie wir heute die unsrigen. Allerdings ist das Erklärungsmodell der Antike
ein anderes als das heutige weil die Menschen sich von anderen Fragen leiten liessen. Diese Fragen müssen zuerst geklärt werden.
Zur Interpretation einer Vision kann demnach ein Drittes festgehalten werden:
Erklärungsmodelle gehören zum Repertoire des Menschseins und sind sehr verschieden. Um sich einem Bericht wie der Apokalypse azunähern, müssen ein Stück
weit die eigenen Welterklärungen verlassen werden. Die Apokalypse beantwortet Fragen, die wir heute so nicht stellen, d. h. wir müssen zuerst die Fragen
zu verstehen versuchen, damit die Antworten Sinn machen.
Notizen zu Visionen:
Auch
Hildegard von Bingen (1098-1179) empfing Visionen,
die sie mit dem Probst Volmar von Disibodenberg niederschrieb.
Darstellung Hildegards beim Empfang von göttlichen Eingebungen (Flammen von oben), rechts: Kopf des Schreibers Volmar,
Buch "scivias"
Franziskus von Assisi (1181-1226) erlebte Visionen und die regelmässige Stigmatisation.
Stigmatisation des Hl. Franziskus, um 1400, Gentile di Fabriano, Fondazione Magani-Rocca
Der Schweizer Schutzpatron
Niklaus von Flüe oder Bruder Klaus (1417-1487) empfing wiederholt Visionen.
Besonders mit seiner letzten Vision des "erschreckenden Gottesantlitzes" ist der Mystiker und Asket in Erinnerung geblieben.
Ältestes Bild von Bruder Klaus, 1492, Altarbild aus der Pfarrkirche Sachseln, Museum Bruder Klaus
Das "erschreckende Gottesantlitz". Diese Vision wurde dann zu einem Meditationsbild ausgearbeitet.
Die Mystikerin und Kirchenlehrerin
Teresa von Àvila (1515-1582) sah in Visionen die Hölle
und die Tiefen der menschlichen Seele.
Teresa von Àvilas Vision der Taube, Peter Paul Rubens
Der umstrittene Theologe
Pierre teilhard de Chardin (1881-1955) versuchte
Wissenschaft und Religion zu versöhnen. Er beschreibt auch eine Vision in "Lobgesang des Alls".
Beispiel für einen Menschen mit Visionen.
Teilhard de Chardin, französischer Jesuit, Theologe, Philosoph, Anthropologe, Geologe und Paläontologe
Die Schweizer Mystikerin
Adrienne von Speyr (1902-1967) ist ein modernes
Beispiel für einen Menschen mit Visionen.
Adrienne von Speyr
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