Übersicht
Dieser Seite beleuchtet die Apokalypse von einer psychologischen Perspektive aus. Welche seelischen Bilder und Botschaften
sind in der Apokalypse enthalten? Inwiefern spricht sie aus unseren seelischen Tiefen und in unsere seelischen Tiefen?
Visionen: Grundsätzliches zu Visionen vom Standpunkt der Psychologie
Archetypen: Archetypen treten oft in Visionen auf. Hier erfahren Sie in knappen Ausführungen, wie das
zu verstehen ist und was das zum Verständnis der Apokalypse beiträgt.
Visionäre: die analytische Psychologie C. G. Jungs vermag die Aussagen und Erfahrungen, welche Mystiker
machen einzuordnen.
Apokalypse: die Apokalypse untersucht C. G. Jung in seinem Buch Antwort auf Hiob. Sie finden
hier eine Einfürhung, eine Inhaltsangabe in knappster Form und die psychologische Sichtweise, die Jung in diesem Buch auf die
Apokalypse wirft.
Eine Vision ist die Wahrnehmung ausserphysischer Vorgänge oder Zustände. Ihr Realitätsgehalt ist umstritten und wird allgemein als psychische oder subjektive Erscheinung eingestuft.
Johannes, wird vom Geist ergriffen. Zur Entstehungszeit des Bildes wurde angenommen, derselbe Johannes habe das Evangelium und die Offenbarung geschrieben. Daher heisst dieses Gemälde von Charles Lebrun (1619-1690) Der Evangelist Johannes auf Patmos.
[ Eine radikale Position spricht Visionen grundsätzlich jeden Wirklichkeitsbezug ab und bezeichnet sie als
pathologisch. Insofern diese Position aus der Wirkungsgeschichte von Visionen hervorgeht, erfahren Sie auf dieser Website unter
neuzeit mehr; insofern sie eine begründete Bedrohung des rationalistischen
und allgemein kommunizierbaren Weltbildes meint, finden Sie auf dieser Website unter
gegenwart mehr.
Visionen sind in der heutigen Zeit fremd geworden. Sie erfüllten aber einst einen gesellschaftliche Aufgabe und gaben Antwort
auf Fragen, die damals gestellt wurden. Mehr zu diesen Zusammenhängen finden Sie auf dieser Seite unter
visionen. ]
Der analytischen Psychologie C. G. Jungs zufolge können Visionen - ähnlich wie Träume - als Offenbarungen des Unbewussten
gedeutet werden. Das geschieht etwa folgendermassen:
Die Seele des Menschen strebt danach, als Ganzheit leben zu können, welche die körperlichen und seelischen
Bedürfnisse umfasst und in freier Weise sich mit der Umwelt austauscht. Das allmähliche (und nie abgeschlossene) seelische
Hinbewegen auf dieses Ziel hin wird als Individuationsprozess bezeichnet. Oft stellt sich aber das
Bewusstsein einseitig auf anerzogene oder biografisch erworbene Verhaltensmuster ein oder konzentriert sich auf sinnvoll
empfundene Inhalte. So wird vieles ausgeblendet, was zum Leben als Ganzes gehört. Das Unbewusste hat dann die Möglichkeit,
mit bildhaften Träumen oder Visionen an das Bewusstsein zu appellieren und auf die übersehenen Lebensinhalte aufmerksam
zu machen, um die Gesamtpersönlichkeit wieder auszugleichen. Es bedient sich dabei aus einem Repertoire an Bildern und
Abläufen, die den Individuationsprozess betreffen und daher eine innerseelisch universelle Gültigkeit haben:
Sie treten bei verschiedenen Menschen in ähnlicher Form auf und gleichen sich in verschiedenen
Kulturen als mythologische Erzählungen. Sie werden als kollektiv unbewusst bezeichnet.
Die Offenbarung des Johannes enthält eine Vielzahl archetypischer Bilder und Abläufe. Hier sind einige erläutert:
Die vier Evangelisten stellen eine Vierheit . und damit eine Ganzheit - dar. Majestas Domini (13. Jh.), Elfenbeinarbeit, Paris, Musée de Cluny.
Das Kind als Archetyp. Holzbild des Jesuskindes in der Kreuzgangkapelle des Klosters Wettingen (sogenanntes Wettigner Jesuskind).
Für Carl Gustav Jung ist Niklaus von Flüe „der einzige hervorragende schweizerische Mystiker von Gottes Gnaden, der
unorthodoxe Urvisionen hatte und unbeirrten Auges in die Tiefen jener göttlichen Seele blicken durfte, welche alle durch
Dogmatik getrennten Konfessionen der Menschheit noch in einem symbolischen Archetypus vereinigt enthält“
(Ges. Werke, 11, § 487).
Jung hält Niklaus von Flüe deshalb für den Prototyp eines modernen Mystikers jenseits der Spaltung in verschiedene
Konfessionen und Religionsbekenntnisse. Auch hier wird deutlich, dass in der analytischen Psychologie der Wirklichkeitsgehalt
seelischer Erlebnisse nicht in Frage gestellt wird.
[ Eine radikale Position spricht der Apokalypse des Johannes grundsätzlich jeden Wirklichkeitsbezug ab und bezeichnet sie als pathologisch. Insofern diese Position aus der Wirkungsgeschichte der Apokalypse hervorgeht, erfahren Sie auf dieser Website unter neuzeit mehr; insofern sie eine begründete Bedrohung des rationalistischen und allgemein kommunizierbaren Weltbildes meint, finden Sie auf dieser Website unter gegenwart mehr. ]
Vorbemerkung
Die Existenz des Bösen lässt sich nicht auf rechtliche oder soziale Fragen reduzieren. Sie bleibt immer auch ein seelisches
Problem.
Wie sehr dieses Problem in der menschlichen Seele schwelt und nach einer Lösung verlangt, wird in einem Spätwerk C. G. Jungs,
im Buch Antwort auf Hiob deutlich. Der Psychoanalytiker ergründet darin das Böse und stellt es in den religiösen
Kontext mit Gott, denn das Gottesbild - und das ist wichtig, um Jungs Gedankengänge zu verstehen - entspricht dem innersten
Bild von Ganzheit, der innersten Erfahrung von Transzendenz und der Gewissheit, dass es im Leben mehr gibt, als
im Alltag gelebt wird. Es handelt ich um eine unmittelbare ganzheitliche Erfahrung, die den Menschen innerlich
einnimmt. Wenn C. G. Jung also vom Gottesbild spricht, dann meint er zugleich auch den Archetypus des Selbstes.
[ Das ist aber keineswegs eine Gleichsetzung von Gott und Mensch, sondern besagt nur, dass wir das innere Bild, welches wir von
Gott haben, auch von unserem Selbst haben - und mit Selbst ist die psychische Totalität des Menschen, seine Ganzheit
gemeint, die das Bewusstsein gleich wie das persönliche und kollektive Unbewusste umfasst.
Das Ziel der Selbstwerdung (Individuation) ist die voll entfaltete und integrierte Persönlichkeit - sie ist Utopie
und Postulat, also weder jemals abgeschlossen noch erreichbar und gleichzeitig höchstes Bedürfnis und Gut. Man kann sich
dieses Ziel nicht weit genug denken. Selbstwerdung ist auch keine egozentrische Persönlichkeitsentfaltung, sondern
bezeichnet den Weg des Menschen, seiner Berufung zu entsprechen, die er von innen her erfährt. Darunter kann man nach Jung
auch die Hinordnung auf ein objektiv transzendentes Du (Gott) und die echte Nachfolge Christi verstehen. Das Gottesbild ist
auf das Innigste mit dem Menschenbild, dem Archetyp des Selbstes verbunden. ]
Auf diesem Hintergrund ist es leicht nachvollziehbar, weshalb Jung danach fragt, warum Gott das Böse zulässt - und zwar nicht
einfach das Böse in der Welt, sondern konkret: warum er zum Beispiel Satan im Rahmen einer Wette auf den frommen Hiob loslässt,
warum er zur Versöhnung seinen Sohn Christus leiden, hinrichten und sterben lässt und weshalb er in der Apokalypse
nicht den Satan endlich bestraft, sondern Welt und Mensch in einem beinah nie zu enden wollenden Schrecken höchster Grausamkeit
aussetzt und schliesslich niederstreckt.
C. G. Jung fragt nach der Dunklen Seite im Gottesbild und damit auch nach dem Schatten im Selbst.
[ Natürlich bedarf es mehr Raum, als hier zur Verfügung steht, um dem Inhalt von Antwort auf Hiob wiederzugeben, und es soll deshalb auch nur eine äusserst knappe Skizze der Gedankengänge, welche die Apokalypse betreffen, entworfen werden; aber vor rascher Beurteilung sei gewarnt: die Ausführungen Jungs entbehren nicht einer klaren Schlüssigkeit und einer gleichzeitig wissenschaftlichen und sehr persönlichen Aufrichtigkeit, die zu denken gibt und Glaubensfragen anregt. ]
Auf den kürzesten Nenner gebracht besteht für Jung die Antwort auf Hiob in der Geburt Christi (Inkarnation Gottes) und in der
Wirkung des Heiligen Geistes. Diese Antwort wurde nätig, weil spätestens damals, als Gott sich
auf eine Wette mit Satan einliess, um den frommen Hiob in grausamster Weise auf dessen Treue auszutesten,
und schliesslich weder das eigene Unrecht eingestehen konnte, noch Satan bestrafte, wurde die amoralische Seite Gottes offenbar:
der strafende, eifersüchtige und zuweilen willkürliche Gott des Alten Testamentes umschliesst zwar - ganz wie es sich für
ein ganzheiltiches Gottesbild (und Selbstbild) gehört - das Lichte wie das Dunkle, das Gute wie das Böse. Aber es scheint
dem Psychologen Jung, als wäre Gott seiner dunklen Seite nicht bewusst, wenn er Satan einfach gehen lässt.
Gott irritiert auch im Neuen Testament mit der Tatsache, dass er ein Menschenopfer - nämlich das seines eingeborenen Sohnes -
verlangt, um sich
mit dem Menschen zu versöhnen, und er erscheint beinahe notorisch willkürlich und grausam, wenn es zu den apokalypstischen
Strafen, Plagen und den Schalen des Zorns kommt.
Für Jung steht fest: Es bedarf der Sophia, der Weisheit und Allwissenheit Gottes, damit Gott seinen dunklen
Fleck entdecken kann. Und es braucht Maria, die Liebe Gottes, um einen neuen Gott hervor zu bringen, der beide
Seiten des Gottesbildes umfasst:
das Göttliche und das Menschliche, das Lichte und das Dunkle. In diesem Sinne stehen auch das himmlische Weib und ihr Kind,
welche in Kapitel 12 der Apokalypse erscheinen, deutlich ausserhalb der wiederholten Schrecken der Endzeit. Sie repräsentieren
den Archetyp der vereinigten Gegensätze (conceptio oppositorum) und bringen daher das Kind hervor.
Der Rest der Apokalypse liest C. G. Jung als eine Offenbarung des Unbewussten, das sich in archetypischen
Bildern Aufmerksamkeit verschafft und auf die noch nicht integierte Schattenseite im Gottesbild weist, denn Gott ist zwar in
Christus Mensch geworden, aber so, dass er immer noch Gott geblieben ist - immer noch von Grund auf der Sünde enthoben und
befreit. Christus ist Gottesmensch und Menschengott und damit ist die volle Menschwerdung des Göttlichen noch nicht ganz
erreicht. Das Lichte, Göttliche hat sich noch immer nicht ganz auf das Menschsein eingelassen.
Das bewirkt nach C. G. Jung der Heilige Geist, der im Anschluss auf die Wirksamkeit Christi als Tröster
(Paraklet) von Gott und von Christus zu den Menschen geschickt wird, und die nötige Weisheit und Liebe verleiht, das Lichte
wie das Dunkle im Menschen zur Geburt zu bringen. Er verkörpert Sophia, die Weisheit - und damit auch eine weibliche
Seite Gottes, die zur Ganzheit führt.
In der Apokalypse des Johannes spricht sich darum das Unbewusste im Geiste aus und eröffnet Johannes nicht nur den Blick auf die
eigenen Schattenseiten, sondern auf das Dunkle der gesamten Menschheit, das noch bevorsteht, bis schliesslich eine Vereinigung
aller Gegensätze in der Endschau der himmlischen Jerusalems (das Weibliche), Gottes (das Männliche) zur neuen Schöpfung (das
Kind) möglich wird.
Die ganze Apokalypse ist demnach absolut real aufzufassen: als eine seelische Wirklichkeit, die im Innern jedes
Menschen auf seinem Weg zur Ganzwerdung bevorsteht.
Weiterfürhende Gedanken
Die Beobachtungen C. G. Jungs sind ausserordentlich treffend und anregend. Allerdings müssen ergänzend dazu die Anliegen der
Mysterien beigezogen werden, deren erforschung vielleicht zur Zeit Jungs nicht so vorlagen wie heute.
In den Mysterien wird die gefährliche und willkürliche Seite Gottes nicht mit Verwunderung
wahrgenommen, sondern für den Initiationsweg des Mysten als unerlässlich erachtet. In diesem Sinne ändert sich bereits die
Auslegung der Hiobgeschichte grundlegend, wenn wir sie mit Berücksichtigung der antiken Mysterien lesen. Ausserdem gleichen
sich der Initiationsweg der Mysterienreligionen und der Individuationsweg, wie ihn Jung beschreibt, in auffälliger Weise.
Mehr dazu finden Sie auf dieser Seite unter Mysterienkulte.
Der Mutterarchetyp ist einer der beiden grundlegenden Archetypen im Individuationsprozess. Er stellt jene seelische Erfahrung dar, die jeder Mensch macht: was einem (in der Kindheit) geborgen hält, muss man verlassen, um selbständig und erwachsen zu werden.
Darstellung der Göttin Astarte, Relief aus Ugarit, ca. 2000 v.Chr.
Superman - der moderne Heros. Die Figur wurde um 1935 geschaffen.
Der Archety des Schatten: die ungelebte Seite - oft unsere destruktiven Anteile.
In den Bildern H. R. Gygers wird die tiefenpsychologische Dimension des Schatten deutlich.
Der Lebensbaum ist ein Archetyp des Wachstums und der Lebendigkeit. Er kommt in fast allen Kulturen vor.
Lebensbaum - Fries im Palais Stoclet, Gustav Klimt, 1905
Der Archetyp der Schlange symbolisiert zunächst eine im Menschen wohnende Kraft. In der biblischen Tradition ist sie ein böser, verführerischer Geist.
Michelangelo (Buonarroti) - Die Versuchung durch die Schlange (Ausschnitt Sixtinische Kapelle).
Der Engel symbolisiert eine innere objektive (d.h. nicht egoistisch-subjektive) Kraft, welche das Bewusstsein auf das Gute hinordnet und es nicht in den Wirrungen der Affekte untergehen lässt.
Verkündigungsengel, (linjke Tafel, obere Szene des Altartyptichon Auferstehung Christi), Tizian, 1520-1522, Brescia, San Nazzaro e Celso, Italien.
Der Drache verkörpert Kraft. In der chinesischen Kultur ist er das Zeichen der Kaiser und steht für Glück und Stärke. In der westlichen Tradition ist der Drache mit negativen Eigenschaften besetzt.
Der chinesische Drache kann fliegen und ähnelt eher einem Lindwurd oder einer Schlange.
Der oder die alte Weise symbolisiert das eigene Urwissen. Das Individuum - ähnlich wie beim Mutterarchetyp - verdankt dieser inneren Weisheit viel, aber muss sich von ihr lösen, um selbständig zu werden.
Gandalf (Figur aus Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien) repräsentiert den weisen Alten. Hier in der Verfilmung von Peter Jackson aus dem jahr 2003.
Hiob wird schuldlos vom Bösen heimgesucht. Das beste daran ist: Gott ist damit einverstanden! Die Geschichte Hiobs will uns aber auf eine tiefe Wahrheit aufmerksam machen. Sie entstammt antiker Mysterienweisheit.
Hiob, Albert Birkle (1900 - 1986),
Hiob-Altar [Detail], Meister der Katharinenlegende / Meister der Barbaralegende, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud
Hiob und Luzifer, Arthur Heyer, 1911.