20. Jahrhundert
Allgemeine Vorbetrachtung
Das 20. Jahrhundert zeichnet sich aus durch die zunehmende Massenkultur und die damit verbundenen Veränderungen: die Geschwindigkeit und Vervielfachung der Produktion, die Demokratisierung und Individualisierung fast aller Lebensbereiche, die Vernetzung von Kommunikationswegen, der allgemeine Zugang zum Wissen und die Abstumpfung durchschnittlicher Wahrnehmung und Denkprozesse als Folge einer Überfoderung innerhalb der Massenkultur.
Gegen Ende des Jahrhunderts ist die Bandbreite an Engelsvorstellungen und Engelsberichten derart weit und beinahe überdehnt, dass kaum mehr von einer Angelologie gesprochen werden kann, geschweige denn von einem historischen bezug zu herkömmlichen Angelologien. Allerdings entwickeln sich innerhalb dieser pluralistisch aufgefächerten Zugänge zur geistigen Welt auch neue und kulturübergreifende Ansätze.
Protestantismus
Mit Schleiermachers Deutung der biblischen Berichte über Engel und Teufel begann eine Haltung, die Karl Barth später eine ,,Angelologie des Schulterzuckens" genannt hat. In dieser Anschauung wird die Angelologie für den Glauben bedeutungslos. Die Engel und Dämonen der Bibel sind Symbole und Vergleiche. Wenn auch noch einige der Meinung sind, dass die Bibel eine positive Aussage über die himmlischen Wesen enthält, kommen sie jedoch in Verlegenheit, zu erklären, wie dies das christliche Leben berühren könne. Andere gehen weiter und folgern, dass die Offenbarung über Engel und Dämonen nichts lehre. Der Glaube an sie stelle einen abergläubischen Auswuchs an der Reinheit des Glaubens dar. Dieser Skeptizismus hat sich auf vielen Gebieten bis in unsere Tage erhalten.
Die traditionelle dogmatische Disziplin der Angelologie findet heute innerhalb der protestantischen Theologie meist wenig Beachtung. Im 20. Jh. haben sich zum Thema u.a. Karl Barth, Karl Rahner, Leo Scheffczyk, Ludwig Ott, Herbert Vorgrimler und Thomas Ruster geäussert.
Katholizismus
Im Katholizismus konnten sich die Lehre und die Verehrung der Engel ungebrochen fortsetzen. Nachdem die Neuscholastik ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zur offiziellen philosophisch-theologieschen Lehre erklärt wurde, sollten auch die Engel ihren angestammten Platz in der Lehre beibehalten.
Papst Benedikt XVI sagte: „Die Engel sollten mindestens genauso verehrt werden wie Maria, denn ohne sie wäre vieles in der Bibel nicht möglich gewesen.“ Er nannte zwei Beispiele: „Die Flucht nach Ägypten, als der Engel Josef im Traum erschien und die Verkündigung der Engel, dass Jesus auferstanden sei, dies geschah am Ostermorgen.“
Engel in Literatur uns Kunst
Der Engel wurde bei Schriftstellern und Dichtern wie Rainer Maria Rilke, Nelly Sachs, Franz Kafka, Else Lasker-Schüler, Max Frisch, Friedrich Durenmatt, Robert Walser als Metapher verwendet, eine Gestalt als ein Stilmittel, um die hintergründigen Dimensionen des menschlichen Daseins zum Ausdruck zu bringen. Dieser Metapher-Engel verkörpert zwar nicht mehr das christliche Engelbild. Dennoch erzählen diese Engelbilder noch von Erschütterung, die den Menschen erfasst, wenn er der geheimnisvollen Wirklichkeit gewahr wird, die hinter seiner Alltagsexistenz liegt.
Theosophie
Einem anderen Milieu entstammten die medial ungewöhnlich begabte Helena P. Blavatsky (geb. von Hahn) und Henry Steel Olcott, die sich auf höhere Erleuchtungen durch Geisteroffenbarungen bei spiritistischen Sitzungen beriefen, als sie im Jahr 1875 in New York die Theosophische Gesellschaft gründeten. Ihre Theosophie (gr. Weisheit von Gott) ist eine Mischung aus altindischer und buddhistischer Mystik, gnostischen Spekulationen sowie den Lehren Jakob Böhmes und Swedenborgs.
Anthroposophie
Im deutschen Sprachraum bekannter geworden ist Rudolf Steiner (1861-1925), der vorübergehend zur Theosophischen Gesellschaft gehörte, bis er sich 1913 von ihr trennte, um seinen eigenen Einsichten zu folgen, die er als Anthroposophie (Weisheit vom Menschen) bezeichnete. Schon mit acht Jahren hatte er aussersinnliche Wahrnehmungen von anderen Welten und Wesen, die andere Menschen nicht sehen konnten, erzählte jedoch lange niemandem davon. Um seine Weltschau auszubauen, befasste er sich mit Naturgeschichte, Mathematik, Philosophie, den Künsten, Architektur, Medizin, Pädagogik und Landwirtschaft und edierte und kommentierte die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. Aus seiner Praxis an der Schule der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart entwickelte er eine Erziehungsmethode, die heute weltweit an den Waldorfschulen angewandt wird.
Unbekümmert um die rationalistischen Zeitströmungen sprach Steiner in seinem Modell eines spirituellen Universums auch von den Engeln. Es sind nach ihm nichtmaterielle Geistwesen, die für den normalen Menschen unsichtbar, aber für den spirituellen Menschen erkennbar sind. Ihre Rangordnung ist der klassischen, neunstufigen Engelhierarchie sehr ähnlich, da die Seraphim, Cherubim und Throne die höchste Stufe bilden. In der untersten Triade sind besonders wichtig die Archai (Urkräfte), deren Aufgabenbereich die Beziehungen der Gesamtmenschheit zur Erde sind. Sie verändern ihre spirituellen Körper von einem Zeitalter zum anderen und sind eigentlich das, was man ,,Zeitgeist" nennt. Die Erzengel, ,,Söhne des Feuers", sind für die Entwicklung der jeweiligen ,,Seele" der Zivilisationen und Völker ebenso zuständig wie für die Beziehungen zwischen diesen Gesamtseelen und den Individuen. Die einfachen Engel hingegen kümmern sich um die Einzelmenschen. Ihr Einfluss ist in der Kindheit am stärksten. Wenn dann die Gründung einer Familie und die berufliche Karriere im Vordergrund des Denkens stehen, treten sie zurück, um die Entwicklung persönlicher Freiheit und Individualität nicht zu behindern. Danach bemühen sie sich, ihre Schutzbefohlenen wieder zur Ganzheit zu führen, indem sie ihnen helfen, die spirituellen Aspekte des Lebens zu verstehen.
Neben den Geistwesen, welche die Entwicklung des Menschen und der Menschheit fördern, gibt es nach Steiner aber auch ambivalente Kräfte verschiedener Art. Die einen, mit ,,luziferischem" Charakter, drängen die Menschen zu ungezügelter Selbstverwirklichung im geistigen Bereich, während andere, die Steiner mit dem persischem Ausdruck ,,ahrimanisch" bezeichnete, die Menschen in einem materialistischen, erdhaften Denken festhalten wollen. Der einzelne Mensch braucht den Impuls der luziferischen und ahrimanischen Geister, muss deren Einfluss aber im Gleichgewicht halten, um seinen spirituellen Egoismus durch den Sinn für die Realitäten des Lebens und der Mitmenschen zu zügeln.
Steiner äussert sich auch über den Abfall der Engel und ihre Erlösung durch Christus. Er nennt Michael als den Engel unseres Zeitalters.
Kirche Christi mit der Elias-Botschaft
Die Kirche Christi mit der Elias-Botschaft ist der Meinung, dass der auferstandene Johannes der Täufer von 1927 bis 1994 sowohl Otto Fetting als auch W. A. Draves als Engel erschien und als göttlicher Bote 117 Botschaften überbrachte, die als „Das Wort des Herrn“ publiziert sind.
Portrait Karl Barth / Fotografie von Maria Nettler / Dezember 1955 / Karl Barth Archiv, Basel
Portrait Helena Petrovna / Fotografie um 1895
Portrait Rudolf Steiner / Fotografie um 1905